Montag, 15. August 2011

Tunnelblick (9): Einen sitzen haben

Der letzte Tunnelblick ist ja schon eine ganze Weile her. Für die neu dazugekommenen LeserInnen auch ohnehin noch einmal die Erläuterung, was das Ganze soll: Die Rubrik Tunnelblick skizziert den Umstand, dass man in und an den öffentlichen Verkehrsmitteln und deren Wartevorrichtungen (meist, aber nicht immer, ist es seltsamerweise die U-Bahn) hervorragend was erleben oder beobachten kann: Skurrilitäten, Witzigkeiten, Dramen, Momentaufnahmen, Studienobjekte, bezeichnende Verhaltensweisen, Originale, böse Szenen, seltsame Szenen, auch mal Trauriges, Gespräche, Geschichten, Gesellschaftsexzerpte oder anderes Bemerkenswertes. Der Tunnelblick sammelt diese Anekdötchen. Lange gab es keine Skizze mehr - wohl weniger, weil nichts passiert ist; sondern eher, weil die Redaktion zu faul zum Aufschreiben war. Aber jetzt:

Teenager sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Sie werden zunehmend rätselhaft. Ein Samstagabend im Niemandsland zwischen Kreuzberg und Tempelhof, keine hippe Ausgehgegend also, spät nachts ist es auch noch nicht: Eine öde Bushaltestelle wird von zwei Mädels angesteuert, die schätzungsweise 16 Jahre alt sind. Es scheint sich um beste Freundinnen zu handeln, Indiz: Heuer hungert man gemeinsam. Denn neben betontem Sexy-Styling und viel verschmiertem Schminkkleister fällt vor allem der dramatische Magergrad der beiden auf. Ganz nüchtern sind sie auch nicht mehr, dafür ordentlich überdreht, und sie scheinen trotz des noch nicht sehr fortgeschrittenen Abends nach Hause zu wollen.
Was in diesem Zustand offenbar spießig bis zum Gehtnichtmehr ist, sind Sitzbänke. Vor allem solche an Bushaltestellen. Es nieselt (welch Überraschung in diesen Tagen!) und das Wartehäuschen böte saubere, überdachte Sitze, leer ist es auch. "Nee, is' doch scheiße, lass ma' besser unten hinsetzen!", fordert die eine Freundin. Sie entfleucht dem Häuschen und pflanzt sich demonstrativ davor nieder: auf dem schmutzigen, nassen, hundekotslalomigen Gehweg; im Schneidersitz, versteht sich, damit das Miniröckchen auch schön spannt. Die andere Freundin mosert: "Mann, nee, das is' grad so schwer für mich, ich komm nich gut runter, wenn meine Füße schon taub sind!" - ein bekanntes Problem unter Magersüchtigen, die nicht einmal mehr an der Fußsohle Fett oder Muskeln haben (denn vom erstaunlich bequem anmutenden, eher flachen Schuhwerk kann es nicht kommen). Sie fachsimpeln einen Moment lang über das Taube-Füße-Problem, das für sie eher interessant als tragisch zu sein scheint, schließlich sitzt die Zweite ächzend und mühsam. Kaum haben sie sich niedergelassen, wird zuerst eine Pulle Wodka herausgekramt und geköpft, dann folgen zwei Beutelchen mit Pulver, dem sie sich unbeholfen, aber demonstrativ widmen (vielleicht Coffaina?). Schließlich beginnen sie - kichernd, johlend und eingeleitet durch erstaunlich unpassenden und ungelenken Rapper-Sprech ("Yo, was geht bei euch, Digga, Mann?") -, eine Gruppe harmloser Jungs mutmaßlich arabischer oder türkischer Herkunft, die auf der gegenüberliegenden Seite auf den Bus warten, quer über die Straße aus dem Sitzen heraus anzupöbeln. Die wundern sich, bleiben aber cool und lassen sich nicht provozieren. Als der Bus kommt, sind die beiden Ladies so mit sich, ihrem Rausch und ihrem Auftritt beschäftigt, dass sie aus dem Sitzen kaum wieder hochkommen und der Busfahrer sie zuerst nicht mitnehmen möchte. "Die Flasche bleibt draußen! Weiß eure Mama eigentlich davon?", kommt endlich süffisant von ihm, als die Grazien stolpernd einsteigen. Pülverchen scheinen ihn aber nicht zu stören - versauen die Sitze vielleicht weniger. Busfahrer sind manchmal großartig.

4 Kommentare:

Rob-sy hat gesagt…

Aha... ;)

Witzig find ich aber das die beiden innerhalb von zwei Tagen um ein Jahr gealtert sind.
Lag's am Pülverchen? :P

Efeu hat gesagt…

Vielleicht waren sie auch 15, ja! Ich bin so schlecht im Schätzen. Aber sonst lag's sicher am Zauberstäubchen. ;-)

Kalla hat gesagt…

Ich weiß grad nicht, wo ich DEN hinterlassen soll, darum eben hier: Vielleicht geht's ja auch mit Zaubestäubchen, denn auf dem Efeu-Blogger-Profil sieht man das Efeu-Bildchen mit dem fragwürdigen Link "in voller Größe anzeigen". Und der geneigte Betrachter fragt sich: Wie DAS wohl wirkt? Braucht es hier ein Zauberstäuchen, um minimale Veränderung sichtbar zu machen? :-p

Efeu hat gesagt…

Huhu! :-) Das musste ich nun mehrfach lesen, um den Sinn, respektive die angedeutete Gemeinheit, zu raffen. Ich werd halt auch alt. Oder milde. ;-P

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