Da man in öffentlichen Verkehrsmitteln (vorrangig, aber nicht nur, im U-Bahn-Schacht) und an deren Wartevorrichtungen immer wieder lustige, absurde, abartige, nette, skurrile, böse oder einfach irgendwie bemerkenswerte kleine Momente, Dialoge und Geschichten miterlebt, die man leider schnell wieder zu vergessen droht, wird es in Zukunft beim Grünzeuch die Rubrik "Tunnelblick" geben. Hier darf jede Anekdote aus diesem Bereich ihren Platz finden, die es vermeintlich wert ist. Damit auch die Urenkel noch was davon haben.
Den Anfang machen diese beiden aus den letzten Tagen:
1.
In der U8 im (natürlich!) Neuköllner Umfeld stehen zwei junge Türkisch- oder Arabischstämmige (Asche auf mein Haupt für diese Nichtunterscheidung!) und sind an und für sich sehr mit dem üblichen Coolsein beschäftigt, während sie sich unterhalten. Eine betont stylish und hip aussehende Frau steigt ein. Man merkt schon, dass der eine Cool-Macker dem anderen nicht mehr richtig zuhört und die ganze Zeit die Frau anstarrt. Plötzlich quatscht er sie an.
"Ey, schuldigung? Tut dis eigentlisch weh? Tut dis weh?"
Erst nach mehrfachem Fragen reagiert sie: "Häh, was denn?"
"Na dis da!" Er deutet in seinem Gesicht auf den Mund; der Groschen fällt: Die Dame trägt Piercing(s).
"Ey tut dis escht nisch voll weh und so? Diss muss doch krass weh tun! Frag isch misch so."
Sie verneint lässig, diese Lügnerin.
Darauf er: "Also sieht ja gut aus und so. Aber mir wird schon vom Angucken schlescht, Alter!"
Und nö, ein Anbaggern war es nicht, denn in diesem Moment hält die U-Bahn und sein Kumpel und er steigen aus und wünschen ihr freundlich, aber gegruselt "Schöntachnoch, wa".
2.
Ein halbstarker Coolio, Typ schmierig bis überstylt, und seine in absolut atemberaubendem Maße tussige, sehr junge Freundin sitzen in der proppevollen U-Bahn und "unterhalten" sich, d.h. sie quatscht ihn mit belanglosem Scheiß voll. Unverwandt (und offenkundig grübelnd) mustert der Coolio plötzlich eine Weile einen jungen Mann mit langen, blonden Rastazöpfen, Chucks, Schlabberpulli und Schlagjeans, der friedlich und lässig im wuseligen Türbereich lehnt. Schließlich steht er auf, geht gezielt auf den Retrolooker zu (seine Tuss, leicht panisch: "Eeey! Wasn jetzt? Wir müssen noch nich raus, mann! Hallo??") - und bietet ihm diverse Drogen an.
Klassische Musik auf Schloß Albrechtsberg
vor 4 Wochen
2 Kommentare:
Find ich gut....die neue Kategorie! :D
Mehr als bedenklich hingegen finde ich die geschilderten Ereignisse. Es schießt mir dann spontan ein "das darf doch nicht wahr sein" durch den Kopf. Aber leider ist die Realität nun mal so gnadenlos und Du hast es in Deinem unverwechselbar, unterhaltsamen Stil treffend geschildert. Daher: touché madame.
Doch, es ist wahr. :-D Ich find die Ereignisse bei aller Amüsanz aber gar nicht so bedenklich. Ist doch ganz hübsch und beruhigend:
1. Offenbar befinden sich junge Menschen noch im Dialog miteinander und interessieren sich für Leben und Leiden des anderen, nehmen Anteil und sind auf niedliche Weise zwar mal wehleidig, mal verlogen, aber neugierig statt gesellschaftsverdrossen.
2. Selbst Hobby-Drogendealer, die über einen Haufen Denkklischees und Schubladisierungen verfügen, beachten und betrachten aufmerksam ihre Mitmenschen und sind fit im Denken, Beobachten, Kombinieren - und zudem sehr selbstbewusst.
Diese Gesellschaft ist noch nicht am Ende, der Nachwuchs kann was!
;-D
Allen Sympathisanten der neuen Kategorie empfehle ich auch:
a) Localhosts netten Imitationsversuch "Eustachi in der Röhre" unter http://bdoa.twoday.net/stories/eustachi-in-der-roehre-intro-und-scheiss-amok/
sowie
b) die immer wieder hübsche Seite www.belauscht.de, die zwar zusehends verkommt durch Fake-Stories und unwitzige Schülerstories à la "Und dann sagt der Lehrer...", aber auch viele nette Dialogprotokolle (dort geht es immer um die Unterhaltungen, nicht um ganze Situationen) aus den öffentlichen Verkehrsmitteln zu bieten hat.
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