Mittwoch, 11. August 2010

Tunnelblick (3): Pretty in pink

Lange Zeit dachte ich, die meisten Freaks treffe man in der U8, U9 oder U1. Doch auch die U7 ist wirklich nicht zu verachten. Teils sind die Kaputten dort nur anders kaputt. Ich weiß nun zum Beispiel: Barbie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut - und vielleicht etwas Silikon. Sie zerbricht an ihrem Jugendwahn und an der Gesellschaft, die ihre pastellene Gutwelt-Luxus-Lebensfantasie schmäht und verhöhnt. Und Barbie fährt U7.

Irgendwo in Schöneberg stieg sie ein: kein um Originalität und Auffallen um jeden Preis bemühter Teenager, sondern eine erwachsene Frau, vermutlich um die 30, aber Make-up kann sowohl täuschen als auch Spuren fürs Leben hinterlassen; ebenso wie Diätwahn oder Hungern, vielleicht auch wie das Leben selbst. Sie trug Träume in hellrosa: komplett, bis auf die weißen, grobmaschigen Häkellook-Kniestrümpfe, die vielleicht Overknees sein sollten und an den spindeldürren Beinen nur hinabgerutscht waren, sowie bis auf eine weiße Armkette und die wasserstoffblondierten, überlangen Haare mit Stirnpony. Das Röckchen, das Blüslein, das Top darunter, die High Heels, die Armbanduhr, die Nägel, die Lippen, das Rouge, das strassbesetzte Handy, auf dem sie, kaum sitzend, sofort wild herumzutippen beginnen würde: Alles strahlte im Klischeemädchen-Paradies-Farbton. Auf den Fingernägeln prangten zusätzlich bunte Glitzerpartikel und in bestem French-Nails-Stil rosa Blumen und Schleifen. Selbige trug sie auch im Haar - und zwar auf einem pinken Plastikhaarreif. Sie hätte eine in ihre Kindheit Zurückversprengte sein können; wenn da nicht die Gesichtszüge gewesen wären und die auffallend überdimensionierten Brüste an dem dürren, hochgewachsenen Körper. Und der Kinderwagen. Sie schob ein gerafftes Ungetüm mit Faltpagodendach und miniaturhumanoidem Inhalt mit sich herum, das sie vor meinen Füßen parkte, als sie Platz nahm; natürlich in rosa, etwas dunkler als sie selbst, ein pinkfarbener Babywagen mit Einlage: rosa, nuckelnd, glucksend. In Barbies Detailverliebtheit war auch an dem Kind alles pink, vom Strampler über die Rasseln, das Kuscheltierspielzeug und das Trinkfläschchen im leuchtpinken Wagennetz bis hin zum Windelvorratspack im Wagenkorb. Vermutlich kauft Barbie rosa Waschmittel und Klopapier - sowie auch die Lebensmittel streng nach Farbe.

Hermannplatz, ich musste aussteigen. Nein, Barbie blieb sitzen. Mit den üblichen Gescheiterten und Gehetzten an diesem Ort hatte ihre blassrosa bis freudigpinke Welt nichts gemein. Da der Kinderwagen quer vor mir stand, konnte ich nicht aufstehen und machte eine Aufbruchs-Geste, während ich "Entschuldigung?" gen rosa Elfenstaub hauchte. Statt einfach das Babyvehikel ein Stück abzurücken, sprang Barbie selbst erschrocken auf, knickte dabei mit einem ihrer viel zu hohen Pumps um vor lauter bemühter, übertrieben höflicher Hektik. Vermutlich bewirkte mein Umstiegswunsch die nächste Lebenskrise (oder Stress mit Ken), denn Barbie gab den Weg frei mit den absolut unerwarteten, schüchtern geflüsterten Worten: "Oh, Entschuldigung, ich weiß, ich weiß, ich bin wieder viel zu fett!"

2 Kommentare:

theM hat gesagt…

Und da soll noch einer sagen man würde in den Wirren des Alltags nichts erleben - Dein Artikel wäre der rosafarbene Gegenbeweis dazu. Sehr schön skizziert und derart bildlich beschrieben, dass ich schon regelrechtes Kopfkino hatte. Aber auf der anderen Seite: Wenn jemand schreiben kann, dann ist es mein Lieblings-Efeu. Und feddich :D

io hat gesagt…

ich hatte neulich direkt am virchow eine gruppe aus der kinder- und jugendpsychiatrie, die nen ausflug machten, an der bushaltestelle neben mir. allesamt magersüchtige mädchen. die jügste wahrscheinlich um die acht jahre war gleichzeitig die magerste mit ner gehauchten piepsstimme, die schon fast nach sterbebett klang. krankerweise kam ich mir da auch fett vor.

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