Freitag, 16. Juli 2010

Meer Berlin

Fiese Fata Morgana flimmert Millimeter über dem dampfenden Asphalt: Nicht einmal nachts kühlt es merklich ab in der Stadt. Das schlägt bei manchen in Übermut um, bei anderen auf die Laune, bei wieder anderen aufs Gehirn. Sicher ist, Berlin im Sommer ist skurril.
Bereits morgens ist es für Sommerjunkies das Paradies, aber für Sommerhasser nirgends auszuhalten, man fühlt sich elend - und doch sind um einen herum immer noch Menschen, dank derer man sich noch elender fühlt, weil sie noch mehr schwitzen, schnaufen und dünsten als man selbst und ihr Geruch den Kreislauf schwindlig schüttelt. Aggressiv pflügen sich ächzende Radfahrer durch den Verkehr und überheizte Autofahrer vergessen alle Verkehrsregeln, die Hupe aber finden sie immer. Ventilatoren sind schon länger ausverkauft, wie damals 2003, beim letzten Rekordtemperaturen-Sommer. Ämter und Behörden sollen sich diesmal ganze Ladungen davon direkt ab Wareneingang gesichert haben. Der öffentlich-rechtliche Sender rbb gibt Mitarbeitern gegen Unterschrift Schüsseln aus, damit sie sich kalte Fußbäder unter ihren Arbeitsplatz stellen können.
Die Damen(?)-Sommermode suggeriert nicht nur, die Stadt sei ein einziges, großes Strandbad, sondern ist eine harte optische, nervliche und geschmackliche Prüfung. Zu viele Mädchen und Frauen haben offenbar vergessen, eine Hose anzuziehen; aber man will nicht so unhöflich sein, sie darauf hinzuweisen. Formlos-schlabberige, dafür aber transparente Hängerchen baumeln über Bikinis. Dazu klatschen Flipflops den typischen, schlurfigen Beifall auf dem heißen Boden. Auch wer nur zur Arbeit fährt, will aussehen, als sei er im Urlaub. Vielleicht fühlt man sich dann auch, als sei man dort, oder als liege Berlin am Meer. Auf der Spree schippern allerdings nur Touristen und die vielen Badeseen liegen zu weit außerhalb.
Unter Tage hält sich die aufgeheizte Schlechtluftmasse teils noch beharrlicher als oberirdisch. Auf dem nächtlichen U-Bahnhof Kaiserdamm ist es so heiß und stickig, dass das Warten nicht auszuhalten ist: 13 Minuten in der tiefergelegten Sauna, das geht nicht, also so lange lieber wieder nach oben gehen. Die tagsüber so frequentierte Kreuzung ist verkehrsleer, aber Fußgänger irren umher, teils Gassi gehend mit luftweghechelnden Hunden. Irgendwo hier im Nightlife-Niemandsland muss ein Abiball gewesen sein oder ein Abschlussball einer Tanzschule oder ein Casting für Komparsen, denn es wimmelt von auffallend jungen Menschen in auffallend festlicher Garderobe, die sich nur teilweise untereinander zu kennen scheinen. In ihren nicht immer geschmackssicheren Partymode-Abendkleidchen stolpern Mädels umher, die Fränkisch sprechen oder Hessisch. Vielleicht doch kein Abiball. Eine Frau mittleren Alters mischt sich darunter, im schulterfreien Petticoatkleid mit paillettenbesetzter Schmetterlingscorsage, ihr Körper ist über und über tätowiert mit Monstern und Fantasy-Figuren, die unter dem möchtegerneleganten Geglitzer hervorlugen, und sie quatscht die Teenager haltlos und lautstark voll. Die "Bread & Butter" kann an all dem nicht mehr schuld sein, denn die Messe ist vorbei.
In der Bahn zollt mein Hirn der Uhrzeit, dem vollgestopften Tag und der zermürbenden Hitze Tribut: Ich vergesse umzusteigen. Da aber alle Wege über Rom führen und es in Berlin ein paar Roms gibt, steige ich an einem davon aus. Der Anschluss ist weg, also erstmal draußen Luft schnappen. Auf der Ecke vor dem Bahnhof Zoo spricht mich unsicher und leise ein bayrischer Früh-Twen im adretten, schwarzen, damenhaft wirken sollenden, kurzen Kleid an: Wo es denn Richtung Hauptbahnhof gehe? Ob so spät überhaupt noch irgendwas fahre? Ob von den Bussen einer dorthin kurve? Und ob denn in dem Bahnhofsgebäude dort noch irgendwas sei oder weiter hinten noch etwas komme, nun ja, sie fahre wohl besser Taxi? Meine Erläuterungen zur S-Bahn will sie lieber nicht hören, nein, wirklich, lieber Taxi; jetzt beginnt sie herumzudrucksen, eigentlich traue sie sich da nicht hinein in das Gebäude. Was sie wohl in Wahrheit sagen will, ist: Sie traut sich nicht an den Menschen vor dem Gebäude vorbei - und fürchtet, innen könnten noch viel mehr davon, dafür aber keine Züge sein. Ich biete ihr an mitzukommen, bringe sie hinein, vorbei an den ganz ganz sinistren, gefährlichen Obdachlosen, Strichern und Drogensüchtigen, vor denen sie zurückzuckt, durchquere mit ihr die Bahnhofshalle, während sie sich ängstlich umschaut, und begleite sie noch bis hin zum richtigen Gleis, das voll von Menschen wie ihr ist, nur lachend und laut. Der nächste Zug gen Hauptbahnhof wird für nur zwei Minuten später angezeigt. Sie strahlt und bedankt sich tausendmal. Es wimmelt von Berlin-Einsteigern und -Umsteigern.

2 Kommentare:

freddy hat gesagt…

Danke für diese wunderbare Schilderung unser aller Leiden :-)
Vor allem die aktuellen visuellen Irritationen durch geschmackneutrale Kleidung - Urheber übrigens beiderlei Geschlechts - haben mich sehr zum Lachen gebracht und die Freitagsstimmung angemessen der Außentemperatur angeglichen.

Efeu hat gesagt…

Huhu freddy - schön, dich zu lesen! :-) Und danke fürs Feedback! Schön, wenn das schwappende Schreibseln zum Lachen beihalf.

Naja, geschmacksneutrale Kleidung beherrschen natürlich in der Tat beide (bzw. alle...) Geschlechter. ich zielte auf den speziellen diesjährigen Trend mit diesen komischen, ultrakurzen, formlosen, strandkleidartigen Hängern im Babydollstil ab, bei denen man nicht weiß, ob es nicht einfach nur ein Oberteil sein sollte und fälschlich als Kleid interpretiert wurde. ;-) Diese Mode betrifft wohl nur das "Weibsvolk". Gefährlich find ich daran, wie sie bei sehr jungem solchem spätestens auf der Rolltreppe jedes Lolita-Klischee und damit die Fantasie der pädophilen Humbert Humberts bedient, die hitzehechelnd und geistig irrlichternd durch die ausgedörrte Stadt schlurfen. Abgesehen davon, dass es einfach dumm aussieht.

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