Montag, 27. September 2010

Herds of Nerds

Die Berliner Veranstaltungsort-Landschaft ist ein Kosmos für sich. Funktion trifft Freaks und Fete, Konvention trifft Indie und etepetete. In Friedrichshain heißt ein Teil dieses Kosmos sogar so. Kurz vor dem Frankfurter Tor sitzt das Ungetüm, das früher das größte Kino der DDR, in den 90ern dann mal Berlins erstes richtiges Multiplex war - und nun als "Wir greifen sie alle ab!"-Transformerspielzeug sein Dasein fristet; irgendwo zwischen aufgemöbelter Mehrzweckhalle, Tagungszentrum, Biergarten mit "Public Viewing" und wochenendlicher Großraumdisko für sehr junge Menschen einheitlichen äußeren Stils, die gern zu einem Mix aus House und alten wie neuen Charts tanzen und vor allem posieren.

Letzten Sonntag gab es dort ein Publikum, das deutlich vom sonstigen abwich, auch wenn es ebenfalls zu einer seltsamen - anderen - Art von Vereinheitlichung neigte; natürlich mit der üblichen "Yes, we're all individuals"-Anmutung dabei. Anlass war eine Record-Release-Party der nächsten und in diesem Falle spezielleren, da drei Teile und Versionen umfassenden, Folge der von vielen kultisch verehrten Hörspielreihe "Die drei Fragezeichen" (jaaaaa doch, die korrekte Schreibweise ist: Die Drei ???). Kongenialerweise in dieser Örtlichkeit veranstaltet; denn die Hörspiele verlegt "Europa", die dazugehörigen Bücher und sonstiges Merchandising jedoch der "Kosmos"-Verlag. Hinter der Veranstaltung steckte natürlich die Lauscherlounge, in deren Gestalt sich Justus-Jonas-Sprecher Oliver Rohrbeck quasi beständig selbst huldigt, während er regelmäßig Gutes für Hörfans und Hörspielschaffende tut.

Verteilt auf drei verschiedene Säle und unter dortiger Anwesenheit des jeweiligen Original-Detektiv-Sprechers hörten die Gäste entweder die Version von Justus, von Peter oder von Bob. Anschließend gab es im großen Saal statt Clubszene mal Blubbszene: Die drei Sprecher interpretierten als Extra-Gimmick via Bühne und Leinwand ein kleines, etwa 30-minütiges, unveröffentlichtes und nicht wirklich ernst gemeintes Livehörspiel und erzeugten teils auch die Geräusche dazu selbst. Die Ausrede, sie läsen den kompletten Text just(us) zum ersten Mal, will man mal wohlwollend gelten lassen für zunehmendes Fadenentgleiten, Aus-der-Rolle-Fallen und Wirrerwerden gen Ende. Zumal es dem Unterhaltungswert keinen Abbruch tat und diesen zweiten Teil zum eigentlich lohnenderen des Abends machte. Lohnend jedoch nicht deswegen, weil die Herren anschließend noch Tombola-Gewinner zogen.


("Record Release Party" unter kreischenden Fans. Keine Kinder.)


(Diesmal kein Weltrekord: Verglichen mit diesem ekstatischen Waldbühnen-Massengekreische war's im "Kosmos" gemütlich!)
 
Das Ganze hätte eine gelungene Veranstaltung sein können. Wäre da nicht die unsägliche Organisation seitens des Kosmos gewesen. Zum Konzept gehörte nämlich u.a. auch, die Leute per Ankündigung "Einlass ab 18 Uhr" in Kombination mit freier Platzwahl zum Frühkommen und Schlangestehen zu bewegen - und dann im strömenden Regen stehen zu lassen. Nicht etwa ein paar gnädige Minuten vor sechs öffneten sich die Tore, nein, sondern 20 Minuten später, und dann im Schneckentempo, da genau eine Tür und ein Mitarbeiter offen waren, Letzterer allerdings wohl vorwiegend rektal, speziell was pampige Reaktionen, betont langsames Tempo und dreiste Lügen ("Es ist doch seit sechs, spätestens fünf nach sechs, Einlass!" - seltsam, hätte man das, auf ebendies lauernd, nicht um 18:05 Uhr gemerkt?) anging. Als Krönung hüpfte eine vergnügte Enie van de Meiklokjes mit einem kleinen Kamerateam um die sich in mehrere Schlaufen legende Schlange herum - eine dumpfe Ahnung machte sich breit, dass im "Bericht" nur Positives, nur ein Bejubeln der beeindruckenden Zahl an Interessenten für ein solches Event auftauchen würde. Dabei hätte sich der eine oder andere zutiefst angefressene, berlinisch hervorgefluchte O-Ton aufgedrängt, und sei's als Gegenwehr gegen Enies Berufsjugendlichkeit und betont lustige Überdrehtheit.
Nach fast einer Stunde Einregnen (das hält kein Schirm aus, ohne durchzuweichen) und Pfützenstehen dann endlich im trockenen Foyer angekommen, hielt sich der Spaß leider angesichts kompletter Durchnässung etwas in Grenzen und wollte sich auch den Rest des Abends nicht bedingungslos einstellen. Der Erkältung ins hämische Antlitz zu sehen, während man auf kaltem Steinfußboden sitzt, macht irgendwie schlechte Laune. Da riss es auch die Phase im bemerkenswert gemütlichen, leider aber kühl klimatisierten Kinosessel (Raum "Peter"!) nicht heraus.

Die eigentliche Attraktion war aber ohnehin etwas anderes: das Publikum. Wie bereits angedeutet handelte es sich um eine beeindruckende Spezies Mensch. Das Thema Barrierefreiheit für Seh- und Mehrfachbehinderte mal außen vor gelassen: Schillernd belegt wurde, dass Nerdtum sich nicht allein durch Computersitzen/-spielen oder andere vermeintlich junge bzw. zeitgenössischmediale, aber das Individuum isolierende Trends auszeichnen muss. Sollten Nerds sich gelegentlich auch häufen, anstatt nur, wie das Klischee es besagt, als sozial vereinsamte Randfigur im stillen Kämmerlein vorsichhinzufreaken, so war an der Frankfurter Allee irgendwo ein Nest. Ein sogenannter Nerd-Herd. Dieser ergab eine ganze Nerd-Herde oder gleich mehrere davon. Sie versammelten sich mysteriös. Es wogte ein Meer aus Fanshirts, schüchternen Autogrammjägern, skurrilen Gestalten, Alles-auswendig-Kennern, frenetischem Bekreischen, Gruppenjubel, Devotionalienjägern, verscheuklappten Ellbogen-raus-und-durch-wohin-auch-immer-Egomanen, Einzelgängern, Einzelkämpfern, selbstgebastelten Motto-Utensilien (ein Highlight: Fragezeichen-Ohrringe aus Fimo!) und Gutenachtgeschichte-Junkies mit Hang zur Kindheitsnostalgie. Kinder indes waren so gut wie keine anwesend. Auf die zielte das Ganze auch überhaupt nicht ab, obwohl die Hörspielreihe sie ja eigentlich als Hauptzielgruppe hat(te). War die Kindheitssehnsucht echt? Es drängt sich der Verdacht auf, dass gerade auch im Bereich der sogenannten Alten Medien und vielzitierten Retro-Trends mehr und mehr ein Kult allein schon aus dem Aus-etwas-einen-Kult-Machen gemacht wird.

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