Samstag, 4. September 2010

Tunnelblick (5): Das Beste aus sich herausholen

Die Welt unter Tage ist eine Welt über Grenzen. Im Untergrund sind die Menschen eine große Familie: offen, locker, zutraulich. Sie haben keinerlei falsche Scham voreinander. Auch keine natürliche (soweit in der Zivilisation noch irgendwas natürlich ist) - wie die folgenden beiden Begebenheiten aus den vergangenen heißeren Tagen zeigen.

(1)
Am Hermannplatz tummeln sich ja immer verschiedenartigste Existenzen, tobt stets das pralle Leben, positiv wie negativ; die einen Existenzen praller, die anderen nüchterner, wieder andere lebender. Auf dem Bahnsteig der U8 ist es heuer besonders voll, denn es herrscht "unregelmäßiger Zugverkehr" - und das zur morgendlichen Rush Hour. Dicht an dicht stehen in der Sommerhitze die Körper der Wartenden, während ihre Geister sich gerade mit sonstwas beschäftigen - Hauptsache ablenken von der Zeitbedrängnis, der Hitze, der schlechten Luft, dem Körper. Manche schlängeln sich durch, um nervös auf und ab zu gehen. Die meisten stehen still und atmen einfach nur schwer. Mitten hinein in diese Meute stellt sich einer, um die 40, der dem Begriff "Überhöhung" eine neue Pointe gibt. Er ist offenbar deutlich über zwei Meter groß, alle Umstehenden überragt er um mindestens einen Kopf. Das Begafftwerden und Herausragen unterstreicht er aber selbstbewusst mit einem knallroten T-Shirt, das neonfarbene Musterungen im 80er-Jahre-Stil trägt und die betont seriöse Aktentasche in seiner rechten Hand zu persiflieren scheint. Leuchtend thront die Erscheinung über dem sonstigen Menschenbrei. Der Mann ist wie eine menschliche Boje, ein Leuchtturm, ein Treffpunkt, falls jemand im Gewühl seine Kinder verlieren sollte oder seine morgendliche Weggefährten-Verabredung nicht findet. Auch für Wandertage, Ausflügler und pauschalreisende Touristengruppen eignet er sich: "Wir sammeln uns an dem großen Mann mit dem Signal-Shirt."
Plötzlich fährt dieser Blickfang, gänzlich gelassen bleibend, die nicht mit Aktentaschetragen beschäftigte, freie Hand aus - und führt den Zeigefinger zum Gesicht. Ah, der Leuchtturm wird gereinigt. Genüsslich, minutenlang, freimütig, ausgiebig, unbeirrt und vor allem beeindruckend tief bohrt er mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit in der Nase, hoch über den Häuptern, tiefgründig mal morgendlich in sich gehend - bis die U-Bahn endlich kommt. Seltsam: Die Meute drängelt zu den Türen, doch nur wenige Menschen steigen an derselben Tür ein, die der dieser anonymen Masse endlich eine Orientierung gebende menschliche Treffpunkt mit seiner linken Hand öffnet.

(2)
Probleme mit Öffentlichkeit hat auch der junge Mann nicht, der am frühen Abend U2 fährt und sich ebenfalls sehr selbstbewusst mit seiner Körperlichkeit auseinandersetzt. Ein gutes Feeling hat er dabei aber offenbar nicht so sehr, vielmehr Probleme mit seiner Hülle. Er fühlt sich sichtlich nicht wohl in seiner Haut. Extrem breitbeinig sitzt er da und belegt damit zwei Plätze, ein eigentlich ebenso häufiger wie nervtötender Macho-Habitus auf öffentlichen Sitzgelegenheiten. Über viele Minuten hinweg zupft und kratzt und sortiert er jedoch unglücklich in seinem Schritt umher, Gesichtsausdruck: irgendwo zwischen schmerzhaft, prüfend, zweifelnd, unsicher, herzeigend und stolz. Die Hose hängt tief, die Hose hängt weit - aber einengen kann sie offenbar dennoch. Oder der Sitz der Kronjuwelen ist an sich und von Natur aus einfach ständig unzufriedenstellend. Oder nur deren angemessene Präsentation? Nach geschätzt vier Stationen des verschiedentlichen, ungenierten Sortierens und Umordnens - vermutlich hat er längst Seemannsknoten fabriziert - entscheidet er sich für den Frontalangriff: Nur kurz sieht er sich um, prüft die Mitreisenden mit knappen Blicken (was war Gegenstand des Prüfens? Anzahl, Gefahr, Gaff-Faktor, Attraktivitätsgrad, Fernsehkamerapräsenz?), befindet offenbar die immerhin mittelmäßig gefüllte Bahn für angemessen unpeinlich - und knöpft kurzerhand die Jeans auf. Nach diesmal nur einer Station erfährt er Genugtuung und kann das Kratzen und Ordnen einstellen. In medias res sortiert es sich einfach effektiver. Danach guckt er auch viel entspannter für den Rest der Fahrt. Seine Boxershorts sind fliederlila und zeigen das Lächeln der Mona Lisa, nein, es ist Marge Simpson.

Keine Kommentare:

Counter