Mittwoch, 1. September 2010

Tunnelblick (4): Aufpassen statt anpassen!

(1)
Spät, dunkel, klebrig und ziemlich tempelhof ist es im strömenden Regen. An der Nachtbushaltestelle am Platz der Luftbrücke lassen sich zwei aufgekratzte Provinzmädels von einem ordentlich auftrumpfenden, betont lässigen Coolio um die 20 volllabern. Aus dem laut geführten Flirtgespräch ergibt sich, selbst wenn man nicht lauschen will, dass mindestens eine davon aus Bielefeld auf Berlinbesuch ist. Der Kontrast ist groß. Ihre Freundin hüpft eher tussig und overstyled in einem roten Kleid, Feinstrümpfen und Pumps durch die Gegend, sie selbst jedoch macht auf öko, alternativ, Protest und Rastafarian: Dreadlocks, Schlabberklamotten, Piercings - und barfuß. Vielleicht machen das in Bielefeld die jungen Hipsters so. Kann sein, dass es da weder Pfützen noch Dreck noch Hundescheiße auf öffentlichen Straßen gibt. Während ihre Zehen anmutig mit Matsch, Rotz, aufgeweichten Zigarettenkippen und Brackwasser spielen, gibt der Berliner ihr ganz weltmännisch Ausgeh- und Chilltipps. Als der Bus kommt, glotzt ihr nicht nur der Busfahrer hypnotisiert auf die Füße (verkneift sich aber, sehr untypisch für diese Spezies, sichtlich mühsam jeden Kommentar), sondern steigt sie nach minutenlangem, angeregtem Gespräch ohne jede Verabschiedung vom flirtenden Coolio ein. Kein Wort des Grußes und kein Blick; sein "Viel Spaß noch!" geht ins Leere. Falls Bielefeld entgegen allen Verschwörungstheorien doch existiert, dann tragen die Menschen dort leidvolle psychische Folgen ihrer ständigen Infragestellung davon.

(2)
Auf dem abendlichen, dennoch sehr schwülen Bahnsteig der U9 am Zoo muss man sich von der Masse absetzen. Die junge Frau mit dem perfekten Make-up und den Vorzeige-Boutiqueklamotten beherrscht das: Sie konterkariert ihr am Oberkörper betont businesshaftes, hochgeschlossenes Outfit (weiße Bluse, Strickweste, Blazer) mit Highheels-Sandaletten mit 10-cm-Absatz und Plateau, durch die knallrot lackierte Zehnägel blitzen und über denen sie die zu eng sitzende Stretch-Jeansleggings umgekrempelt hat, damit man auch sieht, dass das exzentrische Schuhwerk bis über die Knöchel hochreicht. Sexy. Neben einer normalen Umhängetasche trägt sie das bekannte, sehr dicke, rote Kompaktbuch (mit bunten Post-its in den lesenswerten Seiten markiert) mit sich herum, das man so schön mit Ergänzungslieferungen seitenweise nachbeheften kann - damit auch jeder weiß und sieht, dass sie Jura studiert. Die Aufschrift "Schönfelder, Deutsche Gesetze, Textsammlung" kann man allerdings nicht lesen, sondern nur wissen, denn sie ist kreativ: Von außen hat sie das Buch beklebt, eingeschlagen mit einem Stoffeinband im gleichen Rot mit selbstgebastelten Henkeln: So kann sie es - die mit Lesezeichen versehene Seitenkante nach oben - stylish als Handtasche herumtragen. In der Bahn schlägt sie das rote Täschchen auch demonstrativ auf und beginnt, mit wichtigem Gesichtsausdruck darin herumzublättern. Das Abheben von der Masse funktioniert: Die Umsitzenden bieten die ganze Belustigungs-Bandbreite von dezent schmunzelnd bis sich gegenseitig breit anfeixend; wirkt die Dame doch ebenso sehr einem Möchtegern-"Sex and the city"-Set entlaufen wie deplaziert an dieser Stelle.
Antipodisch besteigt an der nächsten Station ein Punk die U-Bahn. Kein Teenie-Modepunk, sondern ein seltener echter, ranziger, etwas in die Jahre gekommener; einer mit (natürlich!) Hund im Schlepptau, grünlich ausgewaschenem Irokesenschnitt, ausgedienten Feuerzeugköpfen als Nieten am Revers der zerfledderten Jeansweste und sowas wie politischen Einstellungen, die er mit Anarcho- bzw. Anti-Nazi-Aufnähern zur Schau trägt. Auch wenn die Bahn nicht voll ist: Sitzbänke sind ihm zu spießig. Sein Wuffi und er nehmen bequem im Gang auf dem Fußboden Platz, gegenüber der Jurastudentin, die prompt angewidert von ihrem Schönfelder aufschaut. Doch auch er hat Lektüre dabei: intellektuell, politisch, gesellschafts- und konsumkritisch! Aus seinem abgegrabbelten und mit wichtigen Statements bemalten Armeerucksack zaubert er ein zerfleddertes "Disney's Lustiges Taschenbuch" hervor, in das er sich ebenso angestrengt wie fasziniert vertieft. Faust hoch gegen das System! Mittelfinger den Spießern und Nichtdenkern!

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